Substanzen und Kräfte
„Die Dinge der Natur“ – diesen Begriff finden wir immer wieder in den spagyrischen Traditionen des Abendlandes. Mitunter setzen Kundige wie Paracelsus, Kunckel von Löwenstern, Johann Tölde u.a. Beifügungen dazu wie „als da sind: Pflanzen, Minerale und Metalle“ oder „Erden, Harze und Hölzer“ oder „welche in den drei Reichen der Natur, nämlich dem vegetabilen, dem animalischen und dem mineralischen, mannigfaltig sind“.
In allen (authentischen) heil- und naturkundlichen Traditionen bezieht sich dieser Begriff auf „Dinge“ im Sinne von stofflichen Ausdrucksarten der hintergründig wirkenden Kräfte.
„Dinge“ – das sind gewissermaßen „Körper“, wie immer diese gestaltet sind. Der hermetische Terminus dafür ist Corpore – als Teil der Dreiheit Anima - Spiritus - Corpore (Seele, Geist, Körper oder Feuer, Wasser/Luft, Erde).
Nicht nur der menschliche Körper, sondern jedes „Ding der Natur“ hat seine typische körperlich-stoffliche Ausdrucksart, und diese ist – als der dritte Aspekt des Kontinuums – eingebettet in sein seelisch-feuriges Wesen (Anima) und in sein geistiges (wäßrig-luftiges) Webwerk(Spiritus). Die beiden letzteren Aspekte begleiten unsichtbar jene stoffliche Ausdrucksart, welche wir mit den Sinnen wahrnehmen können. Ohne Anima und Spiritus gibt es in der Natur kein Corpore. Wenn wir einen Stein sehen, oder ein Kraut, einen Baum, ein Insekt, aber auch einen Fuß, ein Gesicht, Haare etc. – all das ist der sichtbare bzw. sinnlich wahrnehmbare Aspekt, welcher stets von den beiden unsichtbaren Aspekten begleitet ist.
Der seelenhafte Aspekt (Anima) ist in der Natur eng mit der Einzigartigkeit und der „Idee“ verbunden. Der geistige Aspekt (Spiritus)ist besonders mit Beziehungen, Wirkungen und Naturkräften verbunden.
Diese Beiden wiederum können sich in der Welt nur manifestieren (und damit sinnlich erfahrbar werden) mittels des Dritten,
des Körpers bzw. der Substanz. Alles Körperliche, jedes „Ding“,
jegliche Substanz ist im Prinzip fest. Feste – oder vielmehr zuerst Schwere – zeigt an, daß etwas in der physischen Natur manifestiert ist.
In der Elementegenese (Äther – Feuer – Erde – Luft – Wasser) ist diese Feste oder Dichte eine Folge des konzentrierenden Prinzips des Seelenhaften (Anima), welche sich verbindet mit der potentiellen Schwere des wäßrig-fluidalen Geistigen (Spiritus).
Das Seelenhaft in der Natur ist zwar konzentrierend, hat für sich selbst jedoch keine Festigkeit oder Dichte – es ist nicht Substanz sondern Kraft. Das Prinzip dieser Kraft ist zentrierend, konzentrierend und schließlich verdichtend (und in der Folge danach wieder öffnend – gr.: ios). In der alchymistischen Terminologie (und auf die natürlichen Dinge bezogen) wird dieses Seelenhafte das „Sulfur-Prinzip“ genannt. Es ist elementares Licht und Feuer, und es ist Aktivität, Personifikation, „das Hervortreten von Etwas aus dem großen Ganzen (Äther)“.
Die alten Griechen nannten es Zeus, das ist Theos,entsprechend dem älteren Wort Tengri – die aktive Kraft im Himmel der Natur, im Ätherraum – die Blitze des Zeus, die Wirkung der Lichter am Himmelsgewölbe
u.s.f.
In der, zur „Kunst“ gehörigen Naturphilosophie ist es jenes Prinzip, welches „die Idee, Tugend oder Quintessenz
de potentia in
actu bringt“, das im Äther-Himmel potentiell Vorhandene „ans Licht bringt“, zur stofflichen
Manifestation konzentriert. Seine Ausdrucksarten bringen Signaturen (Zeichen) wie Farbe, Fettigkeit, Brennbarkeit u. dgl. hervor. So gilt z.B. das ätherische Öl, das Harz, die Farbe etc. als
Ausdruck des Sulfur-Prinzips im Pflanzenreich. In einer zentrierten Blüte, einem geraden, zähen oder harzigen Stamm, starken Farben u.dgl. ist also diese Kraft besonders wirkungsvoll. Ohne die
dazugehörigen Körper und Substanzen könnte sie aber nicht wahrgenommen und genutzt werden. Aber nicht nur die (mehr oder weniger) feste Substanz – weilend im Sal-Prinzip der Natur
(Corpore),
in prinzipieller Stofflichkeit – sondern auch das Geistige, das Vermittelnde, merkuriale Prinzip
(Spiritus)
ist unabdingbar einer jeden Ausdrucksform angehörig. Letzteres – das merkuriale Prinzip (Spiritus) äußert sich als ausstreuende Naturkraft, als luftiges, fluidales, stets bewegtes Element, welches ermöglicht, daß das, was
vordem durch Konzentration der Idee entstanden ist, auch wahrgenommen werden kann. Erst dieses Geistige läßt die hineinverdichtete Idee wirken und ordnet dem „Ding“ seinen spezifischen Platz und
Rang im unendlichen Webwerk der Natur zu.
Auch dieses „Spiritus“ ist für sich ohne
(grobstoffliche) Substanz und bezeichnet ein weites Spektrum an Naturkräften, ja das Wesen der Natur selbst (Merkur/Hermes = Naturgeist).
Es ist also jeder Stoff, jede Substanz sowohl beseelt als auch durchgeistigt. Das „Ding“ selbst, die Substanz, können wir oft sehen und be-greifen. Ein „Ding“ besteht aber nicht nur aus jenem Sichtbaren bzw. Be-Greifbaren, sondern tritt aus den "Prinzipien" in die Erscheinungswelt hervor.
Nichts in der Natur ist ohne Seele, Geist und Körper, ohne Anima, Spiritus und Corpore, ohne Sulfur, Merkur und Sal etc.
(rechts: Leonard Thurneissers Beschreibung des Fenchels nach den wirkenden Prinzipien und Kräften)
Solcherart ist die Natur gebildet, und diese Art anzuerkennen ist die allererste Grundlage jedes „stimmigen“ heil- und
naturkundlichen Systems. Die Einbildung eines „Wirkstoffes“ im Sinne einer aus sich alleine wirkenden bloßen Substanz (Corpore) ist deshalb absurd und hat – paracelsisch formuliert – „keinen Grund in der Natur“. Deshalb sagt Paracelsus: „Arzneiet werden muß nach Sulfur, Merkur und Sal“,
die ayurvedischen Texte beschreiben die Bildung substantieller Teilchen aufgrund elementarer Kräftewirkung (bis hin zu den Prinzipien/Doshas Vata, Pitta und Kapha), die gesamte chinesische /
taoistische Natur- und Heilkunde mit all ihren Zweigen gründet auf der Elementelehre, und alle anderen authentischen Traditionen sind sich in diesem Verständnis einig.
P. H.
Bemerkung des Ethnologen Ivar Lissner zum Begriff „Anima“
„Anima, die Seele, gab der Religion dieser hierher abgedrängten Nomadenstämme den Namen, denn für diese Menschen, die mit den großen Wäldern, den großen Herden und den endlosen Steppen leben, erhielt alles ein Stückchen Seele, was immer um sie war, der Rabe, der Hase, das Rentier, der Baum, der Bach, die Pflanzen. Und manchmal will es mir scheinen, als sei dieser Animismus, diese Allbeseelung, nicht die niedrigste Religionsform, sondern die höchste, neben der die ironischen Spielereien der Griechen und Römer wie eine längst überwundene Stufe infantiler Skepsis wirken. Wie lächerlich müßte Zeus sich ausnehmen, träte er hier, in diesem majestätisch-öden Flußtal in Erscheinung. Welche personifizierte Gottheit könnte vor dem harten und ruhigen Blick des Tungusen bestehen, der gewöhnt ist, unendliche Weiten zu schauen und Ebenen zu durchmessen? Hier muß Gott überall sein, oder er ist nirgends.“
(Ivar Lissner, „Wir alle suchen das Paradies“ 1969)