D a s   " W e b w e r k "   N a t u r


Frühling, Brennessel und Löwenzahn – eine naturphilosophische Betrachtung

von Peter Hochmeier


Die Brennessel verhilft dem Menschen zum Erinnern. Unter den vielen Pflanzen und Kräutern, welche noch den Großeltern bekannt und vertraut waren, ist sie eine der wenigen, die man nicht vergessen kann. Die meisten anderen sind während der letzten Jahrzehnte aus unserem Blickfeld verschwunden – wir haben sie aus dem Bewußtsein verloren. Noch vor einem halben Jahrhundert wußten die Meisten mit den Namen Schafgarbe, Wiesenknopf, Angelika, Kerbel, Salbei, Wegerich, Ehrenpreis, Tausendgüldenkraut u. dgl. oft einiges anzufangen, und wenn wir zurücksehen auf zwei oder drei Generationen, dann lagen da noch Freude, Ernst und Bedeutung in den Namen vieler anderer Kräuter, wie Bibernell, Eberwurz, Hirschzunge, Wurmfarn, Braunwurz, Bärlapp  und dergleichen.

Es ist also deutlich zu erkennen, daß sich unser Sinn für die Heilkräuter etwa während des vergangenen Milleniums zuerst von vielen auf einige dutzende und danach rapide auf einige wenige, kaum ein Dutzend, vermindert hat. Dies ist eine Signatur, welche von manchen großen Kundigen und Philosphen angesprochen wurde, wenn sie sagten: „Der Niedergang von Kultur wird begleitet vom Vergessen der Heilkräuter.“

Nun sind – obgleich allgemein die Kunst zu Kochen und Würzen in gleichem Maße abgenommen hat – dennoch einige Kräuter durch ihren Küchengebrauch verblieben, etwa Rosmarin und Zimt. Man erinnert sich ihrer wegen ihres Geruchs und Geschmacks, ist jedoch gemeinhin erstaunt darüber, daß sie auch große Heilkräfte besitzen sollten.

Dann sind da einige wenige Pflanzen, die sich derart ins Blickfeld setzen, daß man sie immer noch kennt, weil man sie bisweilen sieht. Dabei kann man sich oft nicht einer stillen Freude enthalten, und findet etwa im Vorbeifahren eine Wiese voll blühenden Löwenzahns „schön“ und einige Schlüsselblumen „lieb“ – wohlwollend, weil sie auch Frühlingsboten sind. Seltener zwar, aber immer noch, fällt Manchem der Tau am Frauenmantel auf, während die Rose zwar allgegenwärtig, aber als große Heilpflanze nicht mehr beachtet ist, denn die Blüte duftet halt und ist schön, und die Hagebutte im Teesäckchen gilt nur noch gut genug zum angenehm Säuerlichen der Früchtetees. Da wäre noch die Kamille zu erwähnen – auch vom Teesäckchen bekannt – die kennt man zwar, aber verliert sie auch schon, denn dieses Säckchen hängt man ungern ins Wasser – man ist ja nicht krank...

Solcherart ist eine Signatur, ein Aspekt, eine Ausdrucksweise, wie der Mensch die Natur verliert, diese ihn nicht mehr akzeptiert und versucht ihn nun abzuschütteln. Viele andere Aspekte und Zeichen zu dieser Situation zusammengenommen beschreiben Problem und Lösung dieser Zeit.

Es ist aber der Mensch ein lebendiges Wesen, und alles außer ihm selbst, nämlich der göttlichen Seele, ist direkt Bestandteil dieser Natur. In ihr bilden Körper und Geist ein Kontinuum, einen Mikrokosmos, und sind in allen Aspekten mit der großen Natur, dem Makrokosmos verbunden und verwoben.

Damit nun solch ein Mensch in diese Natur, in diese Welt hineingeboren werden darf, muß ein Sinn darin sein, und dieser Sinn ist in Wirklichkeit das Wesentliche und der rote Faden im Leben. Deshalb merken die Kundigen aller Zeiten an: „Der Mensch ist die Quintessenz, die Idee, dieser Welt.“

Jeder Mensch kommt mit einer „Idee“, mit einem Auftrag, in diese Welt – man könnte in moderner Sprache sagen: mit einem Programm. Diese Idee bestimmt besonders die erste Zeit seines Lebens und beeinflußt bis zum Ende seinen Weg.

Dort (und in solchen Zeiten) wo Menschen im Zustand von Kultur leben, ist man bemüht, jener Idee gerecht zu werden, sie zu erkennen, und alles auszuführen oder wenn nötig zu verbessern, sodaß am Ende gesagt werden kann: Ich habe meinen Sinn erfüllt.

Wenn aber die Umstände lebensfremder oder kulturloser sind, dann stellen sich von Beginn an mannigfaltige Umstände gegen jene Idee, behindern jenen Auftrag, verwischen den Weg und führen in die Irre. Das beginnt bereits im Mutterleib und wirkt besonders stark im Kleinkindalter ein.

Im innersten Wesen aber, bemerkt das Kind die Abweichungen, und dieses Bemerken setzt sich während des weiteren Lebens fort, sofern nicht allzugroße Stumpfheit und Ignoranz überwiegt. Damit enstehen ständig kleine und größere Konflikte im Geist, und solche, die bewußt werden, beeinflussen Denken und Intellekt. Diese wiederum fallen aus ihrer Natur und geraten auf unnatürliche Wege, Denkwege, welche jedoch von der Allgemeinheit im kulturlosen, naturfremden Zustand akzeptiert, bestätigt, ja sogar gefordert werden. Dadurch setzen sich die Winkel und Irrwege tiefer im Wesen des Menschen fest – solange, bis körperliche Erkrankungen zur unvermeidlichen Folge werden.

In diesem Stadium senden Körper und Geist ständig Signale und bieten damit Chancen zu Korrektionen. Diese Signale sind oft lange Zeit schlichtweg zu schwach, um vom bereits schlaftrunkenen Bewußtsein als das wahrgenommen zuwerden, was sie sind. Und wenn dann diese Signale störend werden oder gar stärker, dann überantwortet der Schlaftrunkene Körper und Geist einer Kampfstoffindustrie, von der er erwartet, daß sie diese Signale mit Erfolg bekämpft, denn inzwischen sind ihm nicht nur jene Signale, sondern auch der Gedanke an ihren Zweck, an eine gewisse Erinnerung, lästig geworden.

Nun aber folgt jedem Winter ein Frühling. Es liegt im wahrsten Sinne in der Natur der Sache, daß alle Dinge der Natur, alle Körper, sterben – mit dem Jahreslauf, mit dem Lebensgang oder mit anderen Epochen. Und auf jedes Welken, Erstarren, Vergehen folgt wieder Sprießen, Erblühen, Werden.

Am Übergang zwischen Vergehen und Werden finden allerlei Reinigungsprozesse statt. Das neue Licht des Frühlings vertreibt die Düsterheit des Winters, und in dieser Helligkeit und hervorkommenden Wärme erhebt sich die Erinnerungskraft aus der Erde und weiß: Hier wollte eine Schlüsselblume werden, dort ein Grashalm – trotzdem sie einen ganzen Winter lang verloren und vergessen waren. Dieselbe Natur wirkt im Menschen. Er erwacht und beginnt seiner Aufgabe folgend, der Natur zu helfen, indem er sich Reinigungskuren verordnet, um das Blut zu erfrischen und die Gewebe von den alten Schlacken zu säubern. erwachend versteht er auch, daß zuerst die Kraft ist, und dann die Substanz, zuerst der Gedanke und dann die Tat. Also schließt er auch seinen Geist und sein Denken in die Reinigung mit ein, sodaß diese dann die Substanzen tiefgründig erfassen, vertreibt die melancholichen Schleime des Winters mit Freude und frischer Luft. Wie die Erde an Schlüsselblume und Grashalm, erinnert auch er sich, daß vor dem Vergessen eine Idee war, sein Sinn, die Quintessenz, sein Auftrag und wirklicher Weg. Und wie nach Jahrhunderte langem Winter beginnt das Erinnern plötzlich Freude zu machen, denn er fühlt, daß darin eine durchdringende Heilung ist.

Dieses ist das philosophische Umfeld der Signaturen von Brennessel und Löwenzahn. Unter all den vergessenen und kaum mehr gekannten Kräutern ist die Brennessel unvergeßlich. Darin ist ihre Quintessenz und Idee, und diese Kraft vermittelt sie dem Menschen, wenn er sie nützt. Aufgrund dieser Kraft kann sie substantiell all das tun, wozu man sie besonders im Frühjahr nützt. Diese Reinigung ist eine Auswirkung ihrer Idee, welche im Erinnern gründet. Und dieser Vorgang wird dann erst bis ins Stoffliche regenerierend, wenn die körperliche Reinigung von solchem Erinnern und geistiger Arbeit begleitet wird. Denn das Empfinden, in der Brennessel ein „Verjüngungsmittel“ zu haben entspringt nicht zuerst der körperlichen Wirkung, sondern dem Wahrnehmen jener Signale und eben auch jener Erinnnerungen, welche in sich die Möglichkeit zu korrigierenden Gedanken und Gefühlen bieten.

So ist also die Brennessel ein Mittel zur Tat, eine Aufforderung und Unterstützung die Irrungen zu korrigieren und der eigenen Idee, der Quintessenz, zielstrebig und aktiv zu folgen. Deshalb zieht ja die Idee (nach paracelsus auch: Tugend) der Brennessel zu ihrer Manifestation als erstes die martialen Naturkräfte an sich, eben das Feurige, Aktive und Zielstrebige. Wenn das Ziel mit dem eigentlichen Auftrag des Werdens eins ist, dann muß die Natur keine starken Signale setzen, und Körper und Geist bleiben heil.

Der Löwenzahn öffnet dazu gleichsam den Raum, zeigt vor, daß das Lebendige Grenzen überwindet und furchtlos weithin strahlt.  

Raum, Äther – das ist jenes Element, welches uns so selbstverständlich, daß wir seinen allgegenwärtigen Mangel, seine Einschränkung kaum empfinden wollen, die uns der lange Winter aufzwang.

Äther – das ist auch „Himmel“, welcher uns klein geworden in der Kälte und Starrheit. Eng geworden durch Türen und Hürden, Mauern, Zäune, Ein-, Aus- und Abgrenzungen, Analysieren, Trennen, Teilen und Herrschen. Es ist ein Raum und ein Himmel für alle Menschen, für alle Natur und alles Verstehen und Erkennen, nicht ein Äther für diese und ein anderer für jene. Die ältesten Traditionen begreifen den Äther als „jenes Element, das Alles zusammenhält“, und Paracelsus warnte vor fünfhundert Jahren, daß wir dabei sind das Fünfte Element zu vergessen.

Nun folgt aber auf den Winter der Frühling, es beginnt das Reinigen und Austreiben der Schlacken, man überlegt auch eine „Leberkur“, um das Organ des Fünften Elements im Körper zu kurieren, und alles was damit verbunden ist, Enge verlassen und Weitblick zu üben, die Dinge in Fluß zu bringen, Hindernisse, Spannungen und Ärger zu beseitigen u. dgl. mehr.

Es ist der Löwenzahn, dessen erste Signaturen signalisieren, daß er mit diesen Themen korrespondiert. Weithin sichtbar leuchten seine Blütenköpfe, stellen uns joviale Fülle und Wohlwollen vor, beginnende Lichtfülle und starkes Öffnen nach der frostigen Zeit.

Diese Pflanze drückt aus, daß sie Durchgängigkeit zu schaffen vermag, daß sie die Kraft vermittelt etwas hereinzubringen, etwas Neues, Helles, Willen und Idee fördernd.

Zuerst sind da die Blütenknospen und insgesamt der Beginn des Erscheinens: sehr bodenständig, ja geradezu aus einer scheinbaren Vertiefung im Erdboden, fest und noch verborgen. Hier will etwas mit fester Kraft manifestieren, sich im Erdigen gut hinstellen.

Dann blühen die Knospen auf – zwar durchdringend sonnig, leuchtend, jedoch nicht schon fortstrahlend, sich vergebend und verlierend von einigen gelben Randblütenblättern aus, wie die Arnika oder Sonnenblume, sondern kompakt, erhaben und mit Fülle, anhaltend, wie es dem majestätischen Jupiter zusteht, dessen Kraft durch diese Pflanze wirkt bzw. zur Manifestation ihrer Idee als erstes herangezogen wird.

Und schließlich lehnt sich dieses frühlinghafte Neuwerden angenehm zurück im Mond, in der Samenkugel, und überläßt seinen Reichtum gerne dem Wind, dem Gesellen Zeus‘/Jupiters im Ätherraum. Jene Sanftmut begleitet den kräftigen Löwenzahn von Anbeginn, schon in der Weichheit der jungen Blätter, im Angriff des Stiels und der Blüte und dann eben vollkommen hervorgebracht im Samenmond.

So trägt er all diese Zeichen, die Angelegenheiten des Äthers beschreibend, vom weichen, wolkigen, wäßrig-lunaren über den hohen, majestätischen bis in den leuchtenden, durchdringenden solaren Äther. In ihm ist das Öffnen signiert, einerseits auflösend, erweichend; in ihm ist das Festigende, Erstarkende und Erdende signiert, und er offenbart Durchbrechen, Durchdringen und den starken Willen „wieder zu werden“.

P.H.