Wege der „Kunst“ in Zentralasien, Tibet und China

Im Hinblick auf die, heute als ‚asiatisch‘ begriffenen Äste des Weltenbaumes der „Kunst“, werden jene drei, nämlich das Ayurveda, die tibetische Medizin und die ‚traditionelle chinesische Medizin‘, zu den bekanntesten gezählt. Letztere, als ein Konglomerat mannigfaltiger heilkundlicher und naturphilosophischer Systeme – überwiegend im taoistischen Feld – ist durchdrungen vom selben hermetischen Grundverständnis wie die abendländische Spagyrik, Hermetik und Alchymie. Was aber die zeitgenössischen Wege der iatrochymischen Praxis betrifft,  so werden die Substanzen, Pflanzen, Minerale, Metalle und tierische Produkte beinahe ausschließlich unaufgeschlossen, aus hermetischer Sicht in "derber, roher" Form angewandt. Zwar war die Alchymie in alten Zeiten in jenen Regionen Chinas und Zentralasiens ebenfalls eine hochstehende Wissenschaft; sie ist aber während der letzten Jahrhunderte durch einige hinderliche Faktoren fast vergessen bzw. in wenige entlegene Gegenden zurückgedrängt worden und steht dort nur noch in Tibet in Blüte – wenngleich ebenfalls in diesen Zeiten immer noch schwer bedrängt.

Die praktischen iatrochymischen und alchymistischen Texte des alten Chinas beschreiben dieselben Wege die wir auch in den abendländischen Traditionen (von den alten Griechen bis zu  den Spagyrikern des 20. Jahrhunderts) kennen – nämlich den „nassen“ und den „trockenen“ Weg.          

Bo Yang (25 – 200) beschreibt im Zhou Yi Can Tong Qi, daß ihm etwa 600 Abhandlungen über Verfahren mittels des "trockenen Weges" zur Verfügung stünden. Ein sehr alter taoistischer Text beschreibt 54 Verfahren des "nassen Weges" zur Aufschließung von 34 Mineralen und einigen weiteren Substanzen, auch pflanzlicher Art. Beliebte Menstrua waren zum Beispiel Alkohole, Essige und das Xiao Shi („zur Aufschließung von 72 Arten von Steinen“).


So zeichnet sich also in der heutigen intertraditionalen Betrachtung eine starke Entfernung von den Blütezeiten dieser, im Begriff „chinesisch“ zusammengefaßten Systeme, insbesondere in der kunstvollen Präparation – aber auch in der praktischen Umsetzung des naturphilosophischen Begreifens – ab. Währenddessen steht heute noch diesen Blütezeiten die tibetische Medizin viel näher. Dort sind höchst kunstvolle Präparationen von Pflanzen, Mineralen und Metallen üblich und damit darf man jene Tradition als „ganzheitlich“ im eigentlichen Sinn des Wortes bezeichnen.

Die vier medizinischen Tantras (Texte), welche bis heute die Grundlage der tibetischen Heilkunst bilden, entstammen ursprünglich dem vedischen Kulturkreis, sind also demselben urzeitlichen indoeuropäischen Stamm entsprungen, wie auch die authentischen westlichen Traditionen. Die religiöse Beiprägung und teilweise Okkupation hat zu der tibetischen Legende geführt, daß Gautama Buddha ursprünglich die Tantras dargelegt hätte. Nun gilt wohl auch  für ihn – wie für Paracelsus und all die Großen ihrer Zeit – daß sie niemals etwas „Neues erfunden“, sondern stets aus dem lebendigen Strom zeitlosen Menschheitswissens geschöpft haben.  Der Legende nach wurden die Texte dann an Jivaka weitergegeben und wieder weiter von Lehrer zu Schüler, bis sie im achten Jahrhundert von Candrananda und Vairocana schließlich aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt wurden.

Darin werden in 134 Kapiteln die Prinzipien des Körpers, die drei "Säfte", das Wesen der Krankheit, Befundungs- und Behandlungsmethoden, Verletzungen, chirurgische Instrumente und vieles mehr erklärt. Im dritten Tantra, welches insgesamt 92 Kapitel umfaßt, beschäftigt sich ein Kapitel detailliert mit alchymistischen und iatrochymischen Arbeiten wie der Herstellung von Essenzen und Elixiren, mineralischen und metallischen Zubereitungsarten und den "Verjüngungsmitteln" – Präparationen, welche noch heute zum Beispiel zur Herstellung der berühmten „Juwelenpillen“ (Rinchen ril-bu) unumgänglich sind.


„Kundige“ stellen diese heute in dutzenden Manufakturen in Tibet und Indien – auch für eine immer größer werdende Nachfrage in vielen Ländern der Welt – her. Alleine in Lhasa soll die jährliche Produktion 500 000 kg erreicht haben (bei einem Gewicht einer Pille von 1 – 3g). Damit geben die Kundigen Tibets ein Beispiel, daß authentische „traditionelle Systeme“ stets ihren Kern im hermetisch-alchymistischen Wissen haben und damit immer noch in ihrer Zeitlosigkeit den Menschen zum Nutzen dienen – und wohl auch fürderhin noch weit mehr dienen werden.

P. H.