Rasa Shastra und Dravyaguna - Die Lehre vom Naturgeist und den Säften
Alchymie, Iatrochymie und Hermetik in den lebendigen Traditionen Indiens
D i e P r a x i s
Yantras - die "heiligen Gerätschaften" Agni - das "heilige Feuer"
Tiegel Die
3 Putas (Feuer zur Kunst)
andere Yantras
Der Begriff Calcination wird im Allgemeinen als Feuer-Prozeß verstanden, im Sinne von Veraschen, Durchglühen mit Zusätzen u.dgl. Es darf aber dieser Begriff noch viel weitläufiger aufgefaßt werden, bedenkt man zum Beispiel, daß „aus Sicht der Natur“ bzw. „philosophisch betrachtet“, alle vom Künstler ausführten Arbeiten durch die er auf die Substanzen einwirkt, die Wertigkeit einer „Calcination als Aktion“ im Sinne einer Wirkung von Feuer-Kraft haben. Darüber mag einem der Sinn von Nicolaus Flamel’s Bemerkung klarer werden, nämlich: „Putrefaction, Calcination, Sublimation, Kohobation etc. ist alles dasselbe“.
Insbesonders entsprechen diesem Bilde auch die Triturationen im Mörser. Stoßen, Stampfen, Reiben - feurig-aktive Prozesse, welche mit ihrem elementaren Hintergrund der Calcination im Feuer des Ofens nicht nachstehen bzw. nicht nachstehen sollten, sofern sie mit dem nötigen Eifer ausgeführt werden.
Wie bei allen Feuer-Prozessen, so spielt auch bei den Triturationen der Zeitfaktor eine große Rolle. Dies geht aus den Anweisungen der abendländischen Texte oft nicht hervor, und die übliche Formulierung „zerstoße es zu einem feinen Pulver“ trügt. Erst in der praktischen Arbeit erkennt der Spagyriker, daß mitunter zumindest tagelanges Triturieren erforderlich ist, während sich andere Arbeiten im Mörser, wie z.B. nach Starkey, Philaletha u.a. über Wochen und Monate erstrecken. Wenn gewisse Präparate wie Edelsteine, Kalke und Minerale im zweiten Arbeitsschritt (nach den stofflichen und philosophischen Reinigungen) endlich fein genug sind, um durch ein Tuch gesiebt werden zu können, dann ist das Werk noch nicht vollendet, ja oft erst ein Beginn der eigentlichen Aufschließung erreicht, und es folgen lange Triturationen mit Zusätzen von Rosen-, Melissen- od. Rosmarienwasser, Tau, Menstrua u.a.m. Besonders für die Imprägnationen und Imbibationen stellt die endlich erreichte, scheinbar vollkommene Feinheit der Salze und Steine erst eine Ausgangsstufe dar.
Die Texte des ayurvedischen Rasa Shastra „warnen“ den Praktiker vor der bevorstehenden Arbeit, indem sie meist klare Zeitangaben machen. Gemäß detailgenauer Überlieferungen werden Triturationszeiten von Stunden, Tagen, Wochen und Monaten angewiesen, sodaß niemand anfänglich vermeint, daß mit einer simplen Verreibung zum feinen Pulver alles getan wäre.
Aus diesen Vorstellung wird deutlich, daß in solchen Prozessen Arbeitskraft und Pistill Gleichwertiges im Mörser verrichten, wie das Feuer im Tiegel.
Neben diesem „Feuer der Aktivität des Künstlers“ und dem Feuer von Holz, Dung oder Kohlen dienen auch die „Naturfeuer“ zur Calcination – im weitesten Sinne, das Feuer des Erdreichs oder der Mistgrube zu Putrefaction und Fermentation, die, oft nur geringe Wärme zur Gärung, die Feuer und „Bäder“, der Sonnen-Destillationen etc.
Eine archaische Art der Unterscheidung, als Wahl zwischen 3 wesentlichen Naturfeuern, wird im Rasa Shastra praktiziert, nämlich:
Die Calcination im
Feuer der Sonne (Surya-puti)
Feuer des Mondes (Chandra-puti)
Flammenfeuer (Agni-puti)
Besondere Bedeutung hat die Mond-Calcination für solche Dinge, welche von Natur aus eine wesentlich kühlende Kraft besitzen. Will man solche Dinge mittels Calcination aufschließen, dann achtet man darauf, ihre kühlende Eigenschaft nicht zu vermindern. Die Calcination von Muscheln, Perlen oder Korallen mittels Flammenfeuers ist eine äußerst sensible Arbeit betreffend die Temperaturführung. Zugleich muß die Feuerwirkung durch Zusätze von ebenfalls kühlender Natur (z.B. Milch) korrigiert werden. Aufgrund solcher Erwägungen und Erfahrungen hält z.B. die „mondlicht-calcinierte Koralle“ (Chandra-puti-Praval-Bhasma) den obersten Rang unter den „einfachen“ Korallenpräparaten – eines der beliebtesten Mittel der ayurvedischen Medizin.
Je nach Tradition und Region sind dazu verschiedenartige Verfahren üblich. In jedem Falle müssen zuerst die Korallen von stofflichen Verunreinigungen (Sand, Steine etc.) gereinigt und zu kleinen Stückchen gestoßen werden (nicht kleiner als fingernagelgroß). Die der Calcination vorangehende „philosophische Reinigung“ wird folgendermaßen durchgeführt:
Man bindet die Korallenstücke in einem Tuch zusammen, hängt den Beutel so in einen Topf mit Salzwasser, daß er den Boden nicht berührt, und kocht 3 Stunden lang. Danach nimmt man den Beutel heraus und wäscht mit warmem Wasser alles Salz aus den Korallen. (Dola-Yantra-Verfahren)
Dieser Schritt gilt als „philosophische Reinigung“ (skr.: Shodana), womit die „Substanz als rohe Ausdrucksform der beteiligten Naturkräfte“ vorbereitet wird auf das (initiatische) Sterben im Feuer der Calcination. Darüberhinaus steht es dem Künstler frei, noch weitere ähnliche Reinigungsschritte durchzuführen, so zum Beispiel eine nachfolgende 3-stündige Kochung in einem geeigneten Pflanzendekokt, welches danach wieder aus den Korallen ausgewaschen wird. Die Wahl des Dekokts kann sich nach mehreren Kriterien richten:
Es kann verdauungsfördernd sein – gewissermaßen um der Substanz einen Hinweis auf die vollständige Assimilierbarkeit des fertigen Präparates zu geben. Dazu ist zum Beispiel die Kochung in Löwenzahn-, Rhabarbawurzel, Berberitzensaft und/oder Ampfersud geeignet.
Es kann auch ein Impuls zur Öffnung der Substanz gesetzt werden, um die Absicht der Erschließung der Wirk-Kräfte durch die nachfolgenden Präparationsschritte gewissermaßen anzukündigen, wie z.B. durch Kochung in einem starken Sud bzw. Dekokt aus Minzen u./od. leicht sauren Säften, wie z.B. Roten Johannisbeeren, Amalaki-Myrobalan, Sauerampfer oder stark verdünntem Essig od. Zitronensaft (ca. 160 ml auf 1 lt Wasser).
Es können die Zusätze aber auch auf die Signatur und grundsätzliche Wirk-Art der Substanz abgestimmt sein. So sind die Korallen, wie andere Kalke auch, allesamt von der „Planetenkraft Mond“ signiert, die roten Korallen aber dazu stark von solaren, venerischen und martialen Bilde- u. Wirkkräften. Um diese natürlichen Qualitäten zu bestätigen bzw. aufzuwerten kocht man z.B. in Milch, in einem Dekokt aus Jasminblüten, Mistelzweigen, Eibischblüten oder Selleriesamen (Ajwan),diese für sich alleine, hinereinander etc. oder auch vermischt mit Eisenkraut, Johanniskraut u. dgl. – in vielerlei Varianten – je nach regionaler Tradition und Schule.
Mittels bestimmter Pflanzenzusätze können die ausgewählten Dekokte auch schon auf das beabsichtigte Anwendungsziel abgestimmt sein, ob z.B. mit Frauenmantel und Goldrute, mit Hirschzunge und Zinnkraut oder mit Herzgespann und Goldmelisse etc., oder es werden Korrektionen an der Natur der Substanz vorgenommen, z.B.: schleimige Pflanzen, um die rauhe Natur der Koralle zu korrigieren; wärmende Pflanzen, um die kühlende Natur zu mindern, ausschließlich solare Pflanzen, um den lunaren Charakter zu mildern etc.
Sehr oft sind – allgemein bei den Präparationen im Mineralreich – die Eignungen der ausgewählten Zusätze übergreifend und beziehen sich gleich auf mehrere (der angeführten) Gründe für ihren Einsatz zur Philosophischen Reinigung. Da die Ausgangssubstanzen (hier: Korallen) nach den jeweiligen Kochungen sehr gut mit warmem Wasser ausgewaschen – mitunter auch ausgekocht – werden, hinterlassen die Zusätze keine nennenswerten stofflichen Spuren im Endprodukt (v.a. dann nicht, wenn auf diese Reinigungsschritte Calcinationen im Flammenfeuer folgen, wie bei den meisten Edelsteinen und Metallen), interagieren aber wesenhaft mit der zu präparierenden Substanz und prägen ihr gleichsam energetisch ihren Stempel ein.
Idee und Verfahren der Philosophischen Reinigung von Substanzen ist heute in den iatrochymischen Traditionen des Abendlandes sowohl als auch in der Darstellung der Präparate der sogenannten TCM weitestgehend in Vergessenheit geraten, während sie in der tibetischen Medizin, im Ayurveda und in wenigen Zweigen der Unani-Medizin noch üblich sind, ja oft einen sehr hohen Stellenwert besitzen. Im Abendland wird in den praktischen spagyrischen Texten der letzen Jahrhunderte dennoch auch häufig auf die Wichtigkeit der Philosophischen Reinigung des Goldes, des Mercuriusu. ähnl. Substanzen hingewiesen – ebenso wie auf die entsprechende Vorbereitung zur Aufschließung von Edelsteinen (Rubin, Granat, Kristall u.a.) vor allem in den Texten der „echten“ Künstler und versierten Praktiker, wie Johann Agricola und Christoph Glaser („ohne die vorherige wiederholte Ablöschung in einer dazu geeigneten Flüssigkeit ist aus den Steinen keine Tinktur zu erhalten ...“ – Werckschul, 17.Jhdt.) überliefert. Daß ebensolche Kundige immer wieder beklagten, der Glaube an die mächtige Kraft der Edelsteinpräparate ginge verloren, weil sie nur mehr roh genommen und auf einem Stein zu Pulver gerieben würden, beruht nicht zuletzt auf der, während der vergangenen Jahrhunderte zunehmenden Ignoranz, die Themen der Philosophischen Reinigung betreffend – eine Ignoranz, welche hier im Konsens mit einer Degeneration oder Fehlentwicklung des Naturverständnisses verständlich ist.
Praxis:
Die solcherart gereinigte Koralle wird schließlich während der 3 Vollmondtage tagsüber in einem steinernen oder marmornen Mörser trituriert und nachts dem Mondlicht ausgesetzt. Danach ist das Präparat fertig. Die unterschiedlichen Führungen dieser „Mondlicht-Calcination“ sind sehr mannigfaltig und richten sich sowohl nach regionalen Gegebenheiten und Überlieferung, als auch nach Absicht und Vermögen der Künstler.
So triturieren manche direkt während der Nacht im Vollmondlicht, während sie tagsüber das Pulver mit einem Pflanzendestillat der Wahl übergießen und (vor der Sonne geschützt) stehen lassen. Das generell beliebteste Pflanzendestillat scheint hierzu Rosenblütenwasser zu sein. Andere wechseln tageweise ab mit Rosenwasserzusatz, Melissenwasser, Sandelholzwasser, Jasminwasser etc.
Ein Rasa-Shastra-Text empfiehlt hierzu z.B. während der 3 Vollmondtage zuerst mit Jasminblütenwasser, dann mit Sandelholzwasser und zuletzt mit Rosenblütenwasser zu triturieren.
Wieder andere arbeiten sehr gediegen, indem sie die Trituration tagsüber mit jener Feuchte durchführen, welche nachts in das Pulver eingedrungen ist. Diese Idee schließt auch die Verwendung des Morgentaus mit ein und hat unter den Präparationsweisen einen hohen Rang inne. Einige breiten dazu am Abend das Pulver auf flachen Silberschüsseln aus.
Wieder andere wählen einen speziellen Vollmond für ihre Arbeit (oft ist es der Juni- u./od. der Oktobervollmond; auch November u. Dezember), oder sie fahren damit bis zum nächsten bzw. auch über mehrere Vollmondphasen fort.
Ein Rasa Shastra-Text empfiehlt folgendes Vorgehen zur Präparation der „mondlich-calcinierten Koralle“ (Chandra puti Praval Bhasma):
„Nach ihrer entsprechenden Reinigung durch Kochen im Saft der Jayanti-Blätter (Sesbania egyptica) oder im Saft von Tandulaja (Amaranthus spinosus) trituriert man die Koralle tagsüber in einem steinernen Mörser zusammen mit Rosenwasser und setzt das noch sehr feuchte Pulver nachts dem Mondlicht aus. (Komm.: da dieser Text andernorts auch eine Trocknung des Pulver während der Nacht, im Mondlicht, ankündigt, darf man annehmen, er entstammt einer Überlieferung aus einer dazu geeigneten klimatischen Region. Ansonsten wird das Pulver nachts eher feucht, keinesfalls aber trocken, sollte also gegen Abend trockengerieben bzw. nachgetrocknet sein und erst am Morgen wieder angefeuchtet werden). Dieser Prozeß wird 21 Tage lang – bis zum Vollmond täglich wiederholt. Solcherart erlangt man ein rosafarbenes Bhasma.“
P. H.